Le Corbusiers Wohnmaschine

Le Corbusiers Wohnmaschine
1921 prägte Le Corbusier den Begriff „Wohnmaschine“, der als Schlagwort grosse Verbreitung fand. Der Erfinder selbst benutzte den Begriff nur für kurze Zeit und gab ihn dann auf, weil er von seinen Mitstreitern falsch verstanden worden sei. Wie hat Le Corbusier selbst den Begriff verstanden? Die Auflösung dieser Frage wirft ein neues Licht auf seine Frühwerke.

„Ein Haus ist eine Maschine zum Wohnen“ stand 1921 im Heft Nummer 8 der noch jungen Zeitschrift „L’Esprit Nouveau“ zu lesen. Der Artikel war mit „Le Corbusier-Saugnier“ gezeichnet, einem bisher unbekannten Autor, von dem in der Zeitschrift erst vier Artikel zu lesen waren. Dass den Namen noch niemand kannte, lag daran, dass es sich dabei um ein eben erst erfundenes Pseudonym handelte, hinter dem sich der Mitherausgeber der Zeitschrift, der Schweizer Charles Edouard Jeanneret, versteckte. Der Aufsatz war Teil einer Artikelreihe über Architektur, die zwischen 1920 und 1922 in der Zeitschrift abgedruckt wurde. Kurz nachdem die Serie abgeschlossen war, erschien 1923 die ganze Sammlung in leicht veränderter Reihenfolge unter dem Titel „Vers une architecture“ in Buchform. Hatte die Zeitschrift wohl noch keine allzu grosse Leserschaft erreicht, so war dem Buch ein sehr grosser Erfolg beschieden. Bald schon in andere Sprachen übersetzt, gilt es bis heute als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Theorie der modernen Architektur. Der Autor, Le Corbusier, war bald schon als einer der prominentesten Kämpfer für die Anliegen der neuen Architekturbewegung bekannt. Der von ihm geprägte Begriff der „Wohnmaschine“ erfuhr nicht zuletzt bei seinen Gegnern grosse Verbreitung: Sie sahen und kritisierten in Le Corbusier den Erfinder und den Konstrukteur der „Wohnmaschine“. Nicht selten diente der Begriff als schlagwortartige Zusammenfassung all dessen, was die neue Architektur anstrebte, oder aber auch all dessen, was ein Autor an der modernen Architektur ablehnte.

Le Corbusier selber hat seiner eher beiläufig erfolgten Wortschöpfung keine all zu grosse Bedeutung zugemessen. Ihr kommt in „Vers une architecture“ keine tragende Rolle zu. 1927 wurden sowohl von der Fach- als auch von der Tagespresse die beiden Bauten von Le Corbusier in der Ausstellungssiedlung am Weissenhof in Stuttgart als „Wohnmaschinen“ beschrieben, interpretiert und nicht selten auch verhöhnt. Er selber publizierte ein Heft über die beiden Werke (1). Darin lässt sich der Begriff, den damals jeder Leser erwartet haben mag, nicht finden. Man wird den Verdacht nicht los, der Autor habe seine eigene Wortschöpfung mit Absicht vermieden.

1929 reiste Le Corbusier nach Argentinien, um dort an verschiedenen Universitäten Vorträge über Architektur und Städtebau zu halten. Bereits auf der Heimreise schrieb er die Referate zu dem kurz darauf publizierten Buch „Précision sur un Etat Présent de l’Architecture et de l’Urbanisme“ (Feststellungen zu Architektur und Städtebau) um. Hier findet sich im vierten Vortrag, der mit „eine Zelle im menschlichen Massstab“ überschrieben ist, folgende Passage (Ich zitiere absichtlich aus einer deutschen Übersetzung, weil sich das Missverständnis, um das es hier gehen soll, hauptsächlich im deutschen Sprachraum einstellte.): „Diese verschiedenen Elemente bilden eine Gesamtheit von Geräten, die ich im Jahr 1921 (Esprit Nouveau) >Wohnmaschine< getauft habe. Das ist ein Wort, mit dem ich nur flüchtiges Glück hatte und um dessentwillen man mich heute von beiden Seiten der Barrikaden angreift; dabei handelt es sich um die Mitglieder der Akademie (>oh, grauenvoll, mein lieber Kollege, grauenvoll und abscheulich<), wohlverstanden. Und (schlecht verstanden, denn ich glaube, dass die Anklage von Grund auf falsch ist) um die Avantgardisten (>dieser Mann, der in Lyrismus ertrinkt, hat die Wohnmaschine verraten<). Aber wir wollen weiter gehen – das ist nicht so wichtig. Wenn der Ausdruck Aufsehen erregt hat, so deshalb, weil er den Begriff >Maschine< enthält, der offenbar in allen Geistern die Vorstellung von Betrieb, Leistung, Arbeit, Produktion erweckt. Und der Ausdruck >Wohnen< lässt an ethische Begriffe denken, an ein Dauerndes, an die Organisation der Existenz – so dass ein vollkommener Missklang entsteht.“(2) Dieses Zitat ist, wenngleich wohl nicht auf Anhieb verständlich, so doch bei genauerem Hinsehen sehr aufschlussreich: Von den Gegnern aus der Akademie, die den Begriff grauenvoll und abscheulich finden, fühlt er sich wohlverstanden. Die Anklage der Avantgardisten, die eigentlich seine Mitstreiter sein sollten, empfindet er als Grundfalsch. Der die Akademiker provozierende Aspekt des Begriffs scheint also durchaus beabsichtigt gewesen zu sein. Den Vorwurf der Avantgardisten, dass sein Interesse am Lyrismus den Begriff verraten habe, die beiden sich also ausschliessen würden, kann er dagegen nicht akzeptieren. Obwohl das Missverständnis scheinbar nicht so wichtig ist, begründet er es mit dem allgemeinen Verständnis der Begriffe „Maschine“ und „Wohnen“ und tönt dabei an, dass er selber unter „Maschine“ nicht Betrieb, Leistung, Arbeit, Produktion verstanden habe. Sein eigenes Bild einer „Maschine“ verschweigt er allerdings.

Der Umstand, dass sich Le Corbusier von seinen Gegnern besser verstanden fühlte als von seinen Mitstreitern, lässt darauf schliessen, dass die beiden Parteien den Begriff nicht in derselben Weise verstanden haben. Dies soll an Hand zweier Zitate, das eine von einem „Funktionalisten“, der sich als Streiter an Le Corbusiers Seite verstand, und das zweite von einem Gegner illustriert werden. Das erste stammt aus dem Artikel „Wie sollen wir wohnen?“ von Georg Schmidt, dem nachmaligen Direktor des Basler Kunstmuseums und dem Bruder des Architekten Hans Schmidt. „Das ominöse Wort >Wohnmaschine< ist nicht etwa von den Gegnern des Neuen Bauens als Schimpfwort geprägt worden, sondern von Corbusier selber. Wir sind allerdings gewohnt, die Maschine als etwas Menschenfeindliches zu betrachten. In Wirklichkeit aber ist sie eine wahre Freundin des Menschen: Sie nimmt ihm Arbeit ab. Des modernen Architekten Sehnsucht ist es tatsächlich >Wohnmaschinen< herzustellen! Häuser, in denen sich die menschliche Funktion des Wohnens ebenso ökonomisch, zweckmässig, energiesparend, reibungslos, natürlich abwickelt, wie in der Dampflokomotive die technische Funktion der Umsetzung von Wärme in Zugkraft.“(3) Schmidt verstand den Begriff als Metapher für ein technisch einwandfreies, reibungsloses Funktionieren. Das Wohnen wird hier als eine Summe von Funktionen verstanden, die durch die entsprechende Maschine, die Wohnmaschine eben, ermöglicht und abgewickelt werden sollen. Je reibungsloser die Sache funktioniert, desto besser.

Als Gegner sei der Architekturkritiker Peter Meyer zitiert, der in seinem 1927 erstmals publizierten Buch „Moderne Architektur und Tradition“ folgendes schrieb: „Unbesehen hat man die ganze technische Terminologie auf die Architektur übertragen und Le Corbusier hat den Begriff der >Wohnmaschine< geprägt, ein reklametechnisch vorzügliches Schlagwort, das auf Französisch – machine à habiter – allerdings eine Nuance weniger revolutionär klingt. Eine Maschine ist ein Werkzeug, das die Arbeit, für die es bestimmt ist, vollkommen leisten muss: nicht mehr und nicht weniger. Im Fall der Wohnmaschine liegt der Akzent auf dem >nicht mehr<. Obwohl es die Maschinenbegeisterten nicht wahrhaben wollen: das ist ein ästhetenhafter Standpunkt, denn dem Ingenieur ist die Hauptsache: >nicht weniger<. Und vor allem ist die Hauptfrage, welche Leistungen man bei der Montage seiner Wohnmaschine mit dem Architekten-Monteur verakkordieren muss, welche Bedürfnisse durch diese Maschine befriedigt werden sollen.“(4) Im Gegensatz zu Schmidt realisierte Meyer, dass Le Corbusiers „Wohnmaschine“ nicht als eine Metapher für die Funktionalität eines modernen Wohnhauses gemeint war. Meyer verstand die Wortschöpfung, wie seine Betonung des „nicht mehr“ belegt, als einen Angriff auf das bürgerliche „Zuhause“. Damit dürfte er einen wichtigen Aspekt getroffen haben.

Was hat nun aber Le Corbusier selber unter dem Begriff „Wohnmaschine“ verstanden? Suchen wir zunächst die wenigen Stellen auf, wo er den Begriff einsetzte. In „Vers une architecture“ taucht er zwei Mal in den Leitsätzen auf. Die erste Stelle finden wir im Unterkapitel 2 „Die Flugzeuge“ des Kapitels „Augen, die nicht sehen“. Hier steht der Leitsatz „Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen“ am Schluss. Alle Leitsätze zielen darauf ab, dass Le Corbusier die Fragen des Wohnhausbaus genau so exakt und logisch stringent gelöst haben möchte, wie die Flugzeugtechniker ihre Aufgabe lösen. Ein Blick auf den Text dieses Unterkapitels gibt unserer Interpretation Recht. Wir finden hier folgenden letzten Satz: „Um das Programm Loucheur zu verwirklichen [Ein Wohnbauförderprogramm zur Überwindung der immensen Wohnungsnot nach dem Weltkrieg], muss man demnach alle heute noch bei den Architekten in Ehren stehenden Gepflogenheiten vollständig umbilden, muss die ganze Vergangenheit und alle Erinnerungen an früher durch das Sieb der vernünftigen Überlegung sieben, muss das Problem in derselben Weise stellen, wie die Ingenieure das Problem des Flugverkehrs gestellt haben, und muss Maschinen zum Wohnen bauen.“(5)

Die zweite Stelle in den Leitsätzen findet sich im Kapitel „Häuser im Serienbau“: „Wenn man aus seinem Herzen und aus seinem Geist die unbeweglich gewordenen Vorstellungen des herkömmlichen Hauses reisst und die Frage von einem kritischen und sachlichen Standpunkt aus ins Auge fasst, wird man zur Hausmaschine, zum Haus in Serienbau gelangen, das gesund ist (auch sittlich gesund) und schön dank der Ästhetik der Arbeitsmittel, die unser Leben begleiten.“(6) Die „Hausmaschine“ steht hier in unmittelbarer Nähe zum „Haus in Serienbau“. Die beiden scheinen zwei Beschreibungen derselben Sache zu sein.

Im eigentlichen Text des Buches erscheint die Metapher im Schlussteil des Unterkapitels 1 „Die Ozeandampfer“ des Kapitels „Augen, die nicht sehen“: „Ein Haus ist eine Maschine zum Wohnen. Bäder, Sonne, warmes und kaltes Wasser, Temperatur nach belieben. Aufbewahrung der Speisen, Hygiene, Schönheit durch Proportion.“(7) Die hier aufgezählten Funktionen der „Maschine zum Wohnen“ waren schon damals – zumindest im anspruchsvolleren Wohnhaus – Selbstverständlichkeiten. Die Neuheit der Wohnmaschine scheint nicht darin zu bestehen, dass sie von ihrer Funktionalität her mehr leistet als ein herkömmliches Wohnhaus. Es erstaunt aber, dass die „Schönheit durch Proportion“ wie schon im oben zitierten Leitsatz zu den herausragenden Eigenschaften der „Wohnmaschine“ gehören.

Im Kapitel „Häuser im Serienbau“ erscheint der Begriff in einer sehr ausführlichen Abbildungslegende: „Mit anderen Worten, ein Haus, wie ein Auto, entworfen und durchgebildet wie ein Gesellschaftswagen oder eine Schiffskabine. Die heutigen Wohnbedürfnisse können genau umschrieben werden und fordern eine Lösung. Man muss ankämpfen gegen das Haus von früher mit seiner Raumverschwendung. Man muss (Zwang der Zeit: der Herstellungspreis) das Haus als eine Wohn-Maschine oder als ein Werkzeug betrachten.“ Hier erscheint der Begriff in enger Anlehnung an ein Auto, einen Gesellschaftswagen oder eine Schiffskabine. Der Unterschied zwischen einem traditionellen Haus und einer Wohnmaschine besteht darin, dass die zweite keine „Raumverschwendung“ begeht.

Damit haben sich die Stellen in „Vers une architecture“ erschöpft. Wenden wir uns den Maschinen zu, die Le Corbusier als Vergleichsbeispiele heranzieht und in seinem Buch abbildet. Von einem in La Chaux-de-Fonds aufgewachsenen Sohn eines Zifferblatt-Emailleurs, der selber das Handwerk des Graveurs-Ciseleurs erlernt hatte, wäre wohl zu erwarten, dass er zur Illustration einer Wohnmaschine eine Uhr heranziehen würde. Funktionalität, Präzision und Schönheit sind hier in wünschbarer Konzentration und Qualität vorhanden. Diese drei Qualitäten – Funktionalität, Präzision und Schönheit – scheinen jedoch nicht im Vordergrund gestanden zu haben, denn eine Uhr kommt nur als Werbung im Inseratteil der Zeitschrift „Esprit nouveau“ vor. Le Corbusier hatte also seine Beziehungen spielen lassen, um einen Inserenten zu finden, zur Illustration seiner Ideen jedoch befand er eine Uhr als ungeeignet.

Welche Art von Maschinen erscheinen denn auf seinen zahlreichen Abbildungen? Es fällt auf, dass mit einer einzigen Ausnahme alle Maschinen, die Le Corbusier als Reverenzobjekte heranzieht, Verkehrsmittel sind. Aber auch hier sind es nicht die Motoren und Aggregate, die ihn interessieren, sondern Aufnahmen der Karosserien und Ansichten der Personenkabinen. Es ist ganz offensichtlich, dass Le Corbusier mit „Maschine“ nicht irgendeine Spinn- oder eine Webmaschine meinte, sondern ein modernes Fortbewegungsmittel: ein Dampfschiff, ein Flugzeug oder ein Automobil. Allein schon diese Feststellung macht deutlich, dass die Interpretation der Avantgardisten, die den Begriff einzig als Metapher für die Funktionalität der neuen Gebäude verstehen wollten, nicht haltbar ist, da sich für die Verdeutlichung dieses Aspekts andere Maschinen weit besser geeignet hätten.

Welches sind aber die Qualitäten, die der Autor an den Fahrzeugen bewunderte und die er nur an ihnen illustrieren konnte? Aus den erwähnten Zitaten und den Abbildungen aus „Vers une architecture“ geht hervor, dass ihn an den modernen Verkehrsmitteln die Raum- und Einrichtungsökonomie der Personenkabinen faszinierten. Schnörkellos weisen diese Passagierräume nur das notwendigste für die Erfüllung ihres Zwecks auf, ohne dabei aber einen ärmlichen Eindruck zu erwecken. Der Raumbedarf ist genau berechnet und optimiert. Die Einrichtungsgegenstände sind standardisierte Massenprodukte, die keine persönliche Note, keine bourgeoise Gemütlichkeit und kein Verweisen auf den Besitzer oder sonstige Repräsentation kennen. Diese Eigenschaften, die gleichzeitig die Erfüllung der Funktionen, eine rigorose Raumökonomie als auch eine anonyme, standardisierte Ästhetik beinhalten, meinte Le Corbusier mit dem Begriff „Wohnmaschine“; sie wünschte er von den Fahrzeugkabinen auf das Wohnhaus zu übertragen.

Bei genauem Hinsehen und Hinhören entdeckt man an den Fahrzeugkabinen aber noch weitere Qualitäten, für die sich Le Corbusier interessierte: Es sind die kapselartige Geschossenheit und das „Ortslose“ dieser Raumzellen. Diese Behauptung ist im Folgenden präziser zu fassen und zu belegen.

Nachdem Le Corbusier feststellen musste, dass der Begriff „Wohnmaschine“ bei seinen Lesern nicht so aufgefasst wurde, wie er selber ihn verstanden wissen wollte, vermied er ihn und sprach, wenn er sich über Wohnhäuser äusserte, von der „Zelle im menschlichen Massstab“. Dass er auch die „Zelle“ wie zuvor die „Wohnmaschine“ in eine enge Verbindung mit den von ihm geliebten Fahrzeugen brachte, soll folgendes Zitat belegen: „Heute, auf der systematischen Suche nach einer Zelle im menschlichen Massstab, werde ich einige Fälle analysieren; und dabei wird sich eine Richtlinie ergeben. Zuvor einiges über das Leben an Bord eines Schnelldampfers: Während einer vierzehntägigen Reise von Bordeaux nach Buenos Aires bin ich vom Rest der Welt abgeschnitten: von meinem Friseur, meiner Waschfrau, meinem Bäcker, meinem Obsthändler und meinem Metzger. Ich habe meine Koffer ausgepackt und mich in meinem Haus eingerichtet – ich bin in die Haut eines Mannes geschlüpft, der ein kleines Haus gemietet hat.“(8) Der Begriff der „Zelle“ war nicht von den modernen Fahrzeugen abgeleitet, sondern stammte vom Kloster, ganz konkret von der Kartause Ema bei Florenz, die es dem jungen Charles Edouard Jeanneret auf seiner ersten Italienreise 1907 so angetan hatte, dass er sie 1911 noch einmal besuchte, um mehrere Tage dort zu verbringen. Über diese Kartause sagte er 1929 im bereits bekannten Vortrag: „Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal eine so heitere Interpretation des Wohnens kennenlernen würde.“ Ähnlich wie bei den Fahrzeugen bewunderte er in den Mönchszellen von Ema die Raumökonomie aber auch die kapselartige Geschlossenheit jeder einzelnen Zelle.

Das Ersetzen des Begriffs der „Wohnmaschine“ durch die „Zelle im menschlichen Massstab“, die eine deutliche und bewusste Anlehnung an Klosterzellen beinhaltet, belegt Le Corbusiers Interesse an kapselartig geschossenen Raumgebilden. Das Interesse an der „Ortsunabhängigkeit“ eines Objekts dagegen kann damit nicht belegt werden. Dieses Interesse scheint ohnehin im Widerspruch zu einem wesentlichen Merkmal der Architektur, ihrer Standfestigkeit und Erdverbundenheit nämlich, zu stehen. Es ist daher klar, dass Le Corbusier sie bei realisierten Bauwerken nicht wörtlich umsetzen, sondern nur andeutungsweise thematisieren konnte. So beispielsweise im „kleinen Haus“, das er 1923 für seine Eltern am Genfersee errichtete. Drei Jahrzehnte nach der Erstellung publizierte Le Corbusier ein kleines Büchlein über das Gebäude. In der Zwischenzeit war die „Wohnmaschine“ aus der Architekturdiskussion weitgehend verschwunden, so dass ihr Erfinder sie wie zur Erinnerung an die Entstehungszeit des beschriebenen Hauses einsetzen und seiner Vorstellung gemäss noch einmal definieren konnte: „Zweitens: die >Wohnmaschine<. Genau den einzelnen Funktionen angepasste Dimensionen führen zu äusserster Raumausnützung. Die Anordnung folgt dem Ablauf der einzelnen Tätigkeiten. Bei Annahme eines Minimums an Grundfläche für jede Funktion wurde eine Totalgrundfläche von fünfzig Quadratmetern errechnet. Der fertige Plan des einstöckigen Hauses weist mit allen Nebenräumen, eine Grundfläche von sechzig Quadratmetern auf.“(9) Die Eigenschaften einer „Wohnmaschine“ erscheinen hier mit äusserster Raumökonomie gleichgesetzt. Funktionalität ist nicht das Ziel, sondern das Mittel, um die Raumökonomie auf die Spitze treiben zu können. Der Raumökonomie gelten die Anstrengungen und auch der Stolz des Architekten.

Die Titelseite des Büchleins ziert eine Handzeichnung, die den Grundriss des „kleinen Hauses“ darstellt. Diesen Grundriss umschliesst eine breite braune Fläche, deren Bedeutung zunächst nicht ersichtlich ist. Zwar ist das Gebäude von Gartenmauern umschlossen, diese Mauern lassen sich aber in dem braunen Pinselstrich nicht wieder erkennen. Und trotzdem scheint diese recht plumpe Umrahmung dem Autor für das Verständnis der Anlage so wichtig gewesen zu sein, dass er sie dazu auserwählt hatte, die Fronseite des Büchleins zu zieren. Le Corbusier beschreibt den das Haus umgebenden Gartenraum folgendermassen: “Hier wurde so vorgegangen: die Ost-, Nord- und Südmauern schliessen den kleinen Garten von zehn Metern Seitenlänge wie einen Klosterhof ab und gestalten ihn zu einem grünen Saal.“ Im französischen Originaltext steht am Schluss sogar: „Une salle de verdure – un intérieur.“ Und tatsächlich macht die Umschliessungsmauer des Gartens nicht einmal vor der Seeseite mit ihrem grandiosen Panorama halt. Der unmittelbar an die Mauer gestellte Sitzplatz erhält einen fensterartigen Ausblick auf den See und die gegenüberliegenden Savoyeralpen. Hier erscheint also nicht bloss der Wohnraum als eine Zelle, auch der Garten wird zum eng gefassten, abgeschlossenen Klosterhof. Darin scheint die Bedeutung der braunen Grundrissumrahmung zu liegen: Das „kleine Haus“ steht nicht frei in der Landschaft, sondern sitzt in der Mitte eines durch Mauern gefassten „grünen Saales“ wie ein Kirschstein im Fruchtfleisch.

Damit nicht genug: Unmittelbar vor der oben zitierten Beschreibung des „kleinen Hauses“ als „Wohnmaschine“ erzählt Le Corbusier eine überaus merkwürdige Geschichte aus der Planungszeit: “Oft befinde ich mich in den Jahren 1922 und 1923 im Schnellzug Paris-Mailand oder im Orient-Express Paris-Ankara, den Plan eines Hauses in meiner Tasche. Wie? Den Plan bevor der Bauplatz bestimmt ist? Den Plan, für den der Bauplatz erst noch gefunden werden muss? Jawohl. Die Ausgangspunkte des Plans. Erstens: die Sonne steht im Süden. Südlich, vor den Hügeln, liegt der See. Der See und die sich darin spiegelnden Schneeberge erstrecken sich von Westen nach Osten. Daraus ergibt sich: das Haus ist gegen Süden orientiert. Der Fassade entlang erstreckt sich der vier Meter tiefe Wohnraum mit einer Frontlänge von sechzehn Metern. Die Länge seines Fensters beträgt elf Meter.“ Alle, die das Haus vor Ort besucht haben, werden vermutlich nur mit Mühe die Geschichte vom „ortsunabhängigen“ Entwurf glauben. Viel zu präzise sind zum einen die genannten Bedingungen an die Lage am See und vor den Schneebergen formuliert, zum andern verrät der Augenschein vor Ort eine äusserst feinfühlige Einpassung der Anlage an die konkrete Situation. Ganz abgesehen davon ist das Terrain von der Bahnlinie aus nur sehr schlecht zu sehen, eine Wahl aus dem Bahnfenster also mit Sicherheit unmöglich. Die Anekdote des fertigen Plans in der Reisetasche ist also mit recht grosser Wahrscheinlichkeit eine Erfindung des bereits älteren Architekten. Was bedeutet aber dieser gezielt in die Welt gesetzte „Mythos“ des ortsunabhängigen Plans? Mindestens drei Mal spielt Le Corbusier bei der Gestaltung des „kleinen Hauses“ an die Formen eines Eisenbahnwagens an. Das erste Mal betrifft die Gartensituation vor dem grossen „Fenster“ der Umfassungsmauer: Wer am betonierten Tisch sitzt, blickt auf den Genfersee wie ein Zugreisender auf die vorbeiziehende Landschaft. Das zweite Einsenbahnmotiv erkennt man in der gesamten Seefassade des kleinen Hauses. Wie im oben abgedruckten Zitat beschrieben, nimmt die 16 Meter lange Front ein genau zentriertes Fensterband von 11 Metern Länge ein, womit das gesamte Haus Ähnlichkeiten mit einem Eisenbahnwagon erhält. Die dritte Anlehnung an Eisenbahndesign findet sich im auffallend unpraktischen Austritt in den Garten. Zum einen sind die beiden Treppenstufen schmaler als die Tür – wofür es keinen vernünftigen Grund gibt –, zum andern bietet ein Handgriff in Form eines senkrecht neben der Tür angebrachten Eisenrohrs dem „Einsteigenden“ wie bei einem Einsenbahnwagen seine Hilfe an.

Kann vielleicht die von Le Corbusier erzählte Geschichte vom Plan in der Tasche eines Orient-Express-Reisenden so gedeutet werden, dass er sich beim Entwerfen des kleinen Hauses von diesem Luxuszug hat inspirieren lassen? Ist das „kleine Haus“ ein gebauter Wohn- Eisenbahnwagen, der rein zufällig am Genfersee zu stehen gekommen ist? Fassen wir zusammen: Unter Le Corbusiers „Wohnmaschine“ hat man sich nicht eine hoch komplexe, auf Funktionalität hin optimierte Apparatur vorzustellen, sondern eine räumlich minimierte, formal standardisierte, abgeschlossene, ortslose Zelle oder Kapsel. Wie Le Corbusier selber es in „Vers une architecture“ vormachte, ist die Wohnmaschine am ehesten mit der Personenkabine eines Fahrzeugs vergleichbar.

Was bringt diese Feststellung nun aber für die Betrachtung und Interpretation der Werke von Le Corbusier? Mindestens drei für sein architektonisches Werk zentrale Motive stehen nicht mehr vereinzelt nebeneinander, sondern erscheinen als gleichgerichtete Verdeutlichungen des Wohnmaschinen-Charakters:

  1. Das Abheben der Gebäudekörper mit Hilfe von Pilotis: Dieses Motiv betont sowohl das abgeschlossen-kapselartige des Gebäudes als auch seine „Ortsunabhängigkeit“.
  2. Die Verselbständigung des Treppenhauses zu einen autonomen Baukörper (10): Wie beim Flugzeug die Aussteigetreppe oder beim Dampfer der Landesteg, ist die Erschliessung nicht Teil der „Wohnmaschine“, sondern nur an diese heran geschoben.
  3. Der oft mit Betonplanken gefasste oder gar mit „befensterten“ Mauern umschlossene Dachgarten: Selbst auf diesem Dachgarten verlässt der Bewohner die „Wohnmaschine“ nicht. Hier soll er sich nicht in der freien Natur fühlen, sondern vielmehr wie der Passagier auf Deck eines Schiffes oder der Fahrer eines Kabrioletts in der nach oben offenen Kabine.

(1) Zwei Wohnhäuser von Le Corbusier und Pierre Jeanneret durch Alfred Roth, Stuttgart 1927.

(2) Le Corbusier, Feststellungen zu Architektur und Städtebau (Bauwelt Fundamente Nr. 12), Braunschweig/Wiesbaden 1964 (2. Auflage 1987), S. 88.

(3) Georg Schmidt, Wie sollen wir wohnen? In: National-Zeitung, Abendblatt vom 17. Februar 1928.

(4) Peter Meyer, Moderne Architektur und Tradition, Zürich 1927 (2. Auflage 1928), S. 46.

(5) Le Corbusier, Kommende Baukunst, Stuttgart 1926, S. 102.

(6) Le Corbusier, Kommende Baukunst, Stuttgart 1926, S. 204.

(7) Le Corbusier, Kommende Baukunst, Stuttgart 1926, S. 75.

(8) Le Corbusier, Feststellungen zu Architektur und Städtebau (Bauwelt Fundamente Nr. 12), Braunschweig/Wiesbaden 1964
(2. Auflage 1987), S. 88/89.

(9) Le Corbusier, Une petite Maison, 1954 (6. Auflage Birkhäuser Verlag, Basel 2001), S. 5. (Im Büchlein finden sich Übersetzungen ins Deutsche und ins Englische)

(10) Stanislaus von Moos, Le Corbusier. Elemente einer Synthese, Frauenfeld und Stuttgart 1968, S. 112.

Illustrations

Titelbild
Titelbild: Le Corbusier, Kommende Baukunst (Übersetzung Hans Hildebrand), Stuttgart, Berlin , Leipzig, 1926, S. 191; Titelbild des Kapitels „Häuser im Serienbau“.
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Abb. 1: Das kleine Haus, Le Corbusier 1923, Vevey. Gartensitzplatz. Foto DS, 2007.
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Abb. 2: Das kleine Haus, Le Corbusier 1923, Vevey. Historische Aufnahme vom Genfersee her. Photograf unbekannt.
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Abb. 3: Das kleine Haus, Le Corbusier 1923, Vevey. Ausgang zum Garten. Foto DS, 2007.