Eine aussergewöhnliche Fassadengestaltung von Roland Rohn

Eine aussergewöhnliche Fassadengestaltung von Roland Rohn
In Biel, am Neumarktplatz, fällt die Fassade des Wohn- und Geschäftshauses „Jura“ auf: Die Loggien sind geschossweise versetzt – ein Motiv, das in den letzten Jahren stark in Mode kam. Doch die kürzlich erfolgte Renovation verschleiert, dass das Haus schon 1960 erbaut wurde. Der Aufsatz erforscht die Hintergründe seiner Fassadengestaltung um zu verstehen, warum sie heute wieder so aktuell ist.

Das Wohn- und Geschäftshaus "Jura" am Neumarktplatz in Biel und die Herkunft seiner architektonischen Motive

Wer mit offenen Augen in Städten herumschlendert, dem fallen auch Kuriositäten der Architektur auf. Zum Beispiel in Biel. An der Nordecke des Neumarktplatzes, unweit der Altstadt, sticht einem eine besondere Fassade ins Auge (Abb.1). Die Fassade besteht grösstenteils aus Loggien, die stockwerksweise versetzt sind. Die wenigen Zimmer, die bis an die Fassadenfront reichen, sind geschossweise um zwei Felder verschoben. Das Ganze sieht aus, als ob aus einem riesigen Schubladenstock drei Viertel aller Schubladen nach einer bestimmten Regel entfernt worden wären. Es entsteht ein dekoratives, dem Schachbrett verwandtes Muster. Das Motiv kam in den letzten Jahren stark in Mode. Die kürzlich erfolgte Renovation (1) lässt fast vergessen, dass das Haus ja schon 1960 erbaut wurde (Abb.2). Damals war die Fassade wohl einzigartig. Wo gab es Ähnliches? Und warum ist gerade der Versatz von Fassadenöffnungen heute wieder im Trend?
Auch fällt die spezielle Ausbildung des 1. Obergeschosses auf. Das fliegende Dachgesims hingegen ist auch beim Nachbargebäude zu sehen. Dieser fliegende Balken hat eigentlich keine Funktion, sondern bildet nur den optischen Abschluss des Dachgeschosses. Das Motiv ist uns vertraut, doch woher stammt es eigentlich?
Die Fassade ist voller Rätsel, und hätte sie nicht eine starke visuelle Präsenz und gleichzeitig eine ruhige Ausgewogenheit könnte man sie als blosse Kuriosität abtun. Aber es scheint mehr dahinter zu stecken. Wer war eigentlich der Architekt?

Architekt mit Doktortitel

Auf den Baueingabeplänen von 1956 stehen drei Namen für die Architekten: Dr. R. Rohn, F. Rüegsegger, W. Bornoz (Abb.3, oben). Welch eine Überraschung! Es gab damals in der Schweiz nur einen Architekten Rohn, der den Doktortitel trug. Es ist kein Geringerer als Roland Rohn (1905-1971), der in Zürich sesshaft war und 1940 das Architekturbüro von Prof. Otto Rudolf Salvisberg nach dessen Ableben weiterführte. Rohn arbeitete schon 1930-32 im Büro Salvisberg, als das bemerkenswerte SUVA-Haus in Bern erstellt wurde. In dieser Zeit reichte Rohn seine Dissertation über Tragwerk und Raumabschluss an der ETH-Zürich ein. Salvisberg war dabei Korreferent (2). Ab 1932 besass Rohn ein eigenes Architekturbüro und fiel schnell durch die Realisation aussergewöhnlicher Schulhausbauten auf. Nach der Übernahme des Büros Salvisbergs führte er die Planungen für die Firma Hoffmann La-Roche in Basel weiter. Das Bürohochhaus wurde 1959 zum Wahrzeichen der Firma. Doch auch für andere Firmen wie Brown Bovery oder Dätwyler AG konnte Rohn bauen. Dazu kamen Bankgebäude und unzählige Geschäftshäuser im In- und Ausland. Kennzeichen seiner Architektur waren die prägnanten Fassadenraster (3).
Wer aber waren aber die beiden anderen Architekten, die für das Bieler Wohn- und Geschäftshaus zeichneten? Bei W. Bornoz, der immer zuletzt genannt wird, handelt es sich um Werner Bornoz (1923-1997) aus Nidau. Er übernahm wegen der Nähe zu Biel wohl die örtliche Bauleitung. Bornoz war kein Akademiker. Nach einer Schreinerlehre besuchte er zwar das Technikum in Biel, verliess die Schule aber ohne Diplom. Er konsultierte einige Vorlesungen an der EPFL und arbeitete dann in Bern, bis er sich 1951 mit dem Bau seines Eigenheims selbständig machte. Bornoz lernte Rohn über den Studienkollegen Livio Colombi kennen, der mit Rohn 1953 in Thun ein Geschäftshaus errichtete (4). Bauherr war die Immobiliengesellschaft Bernanova AG mit Sitz in Bern. Sie war auch beim Geschäftshaus „Jura“ in Biel Bauherr.
F. Rüegsegger ist schwieriger zu fassen. Es handelt sich um Fritz Rüegsegger (1905-1968), der sein Büro in Zürich einrichtete, aber um 1950 zusammen mit Wilhelm Schürch oft auch in Biel baute (5). Er trat meistens in der Doppelrolle des Architekten und Bauherrn auf. Auch bei den Wohnzeilen am Ostring in Bern war das 1946 der Fall. In Zürich baute er 1953 ein Wohn- und Geschäftshaus am Waffenplatz und 1963 für die Göhner AG ein Geschäftshaus an der Florastrasse (6). Wie Rüegsegger in die Architektengemeinschaft kam, ist unklar.

Fassade von Rohn

Das Baugesuch für das Wohn- und Geschäftshaus am Bieler Neumarkt wurde von der Bernanova AG am 19.7.1956 eingereicht und am 6.11.1956 bewilligt. Ein Nachbar reichte wegen der Gebäudehöhe eine Einsprache ein. Er zog sie dann wieder zurück, als ihm erklärt wurde, warum am Neumarktplatz eine höhere Front städtebaulich richtig sei. In den Akten liegt auch ein Ausnahmegesuch der Zürcher Grundstücksmakler Schaeppi und Barrier im Namen der Bernanova AG betreffend der Gesamtlänge der Erker. Darin wird hervorgehoben: "Die durch Herrn Dr. Rohn gestaltete Fassade trägt in ihrer konsequenten Regelmässigkeit zur würdigen Platzgestaltung des Neumarkts bei..."(7) Interessant dabei ist, dass der Fassadenplan des Baugesuchs erst im Oktober 1956 gezeichnet wurde. Die Grundrisse der Wohngeschosse vom Juni 1956 erfuhren eine nachträgliche Korrektur. Über die Schraffur der durchgehenden Loggia wurden die Seitenwände der vorspringenden Zimmern gezeichnet. Am 10.3.1958 reichte die Bernanova AG eine Voranfrage für zwei zusätzliche Vollgeschosse ein. Diese wurden abgelehnt, hingegen wurde der Vollausbau des Attikageschosses anstelle der Waschküchenaufbauten erlaubt. (8) Um dem Neubau Platz zu machen, musste zuerst das Restaurant "Jura" inklusive Saalanbau abgebrochen werden. Der Bau wurde im August 1958 begonnen und war im April 1960 fertig. (9)

Innere Struktur

Den Obergeschossen liegt eine Schottenstruktur zugrunde. Alle 3.48 m steht eine parallele Wand. Diese Wandscheiben sind aus Backstein. Beim ausgeführten Bau wurden jedoch die Scheiben im 2. Obergeschoss in Beton ausgeführt, damit keine Unterzüge im 1. Obergeschoss notwendig wurden. Sie wirken als geschosshohe Trägerbalken auf den Stützen des 1. Geschosses. Das Erdgeschoss ist zurückversetzt. Rechteckige Fassadenpfeiler definieren einen Laubengang, runde Stützen fangen die Kräfte im Innern des Gebäudes ab. Einzig die Treppenhäuser sind zur Versteifung des Gebäudes fest mit Mauern umschlossen. Die Grundrisse wurden zwischen der Baueingabe und der Ausführung stark modifiziert. Die Treppen rückten ganz an die hofseitigen Gebäudeecken und das Treppenauge erhielt eine dynamischere Form (Abb.4). Gerade hier lässt sich die Handschrift Rohns erkennen, der die eleganten Treppen Salvisbergs zum Vorbild nahm. (10)
Im Erdgeschoss sollte neben Läden ein Café einziehen, in dem eine separate Treppe zum Restaurant im Obergeschoss führte. Daraus wurde aber nichts. Schliesslich gab es nur Ladenlokale. Die Erweiterung ins Obergeschoss mit separaten Treppen wurde aber beibehalten.
In den Wohngeschossen fällt die Umgestaltung der Cheminées auf. Die Grundrisse erstaunen aber vor allem wegen der Erweiterungen einzelner Wohnzimmer und Studios bis zur Fassadenflucht. Der Grund dafür liegt in der aussergewöhnlichen Fassadengestaltung, die beschlossen wurde, als die Grundrisse der Baueingabe schon eingereicht waren. Doch selbst bei den modifizierten Ausführungsplänen beeinflussen die Erweiterungen den inneren Grundriss nicht. Sie haben keine funktionale Entsprechung. Wie zufällig gibt es grosse und kleine Wohnzimmer oder Studios.

Die Fassade: ein Kunststück

Auch die Fassaden erhielten bis zur Ausführung einige Modifikationen. Bei der Hauptfassade zum Neumarktplatz hin wurde der Rhythmus der Loggien um ein Geschoss vertauscht (Abb. 3, unten). Die korrekte Schattendarstellung im Ausführungsplan macht deutlich, dass zwischen den Loggien Trennwände bestehen. Die Fensterteilung des vorspringenden Zimmers wurde auch geändert. Statt eines seitlichen, quadratischen Lüftungsflügels erhielt das Fenster eine symmetrische Teilung mit zwei schmalen seitlichen Flügeln. Wer das Gestaltungsprinzip der Fassade durchschaut hat, versteht die Änderungen. Eine geometrische Analyse der Fassade lüftet ihr Geheimnis (Abb. 5): Im Bereich der Wohngeschosse suggerieren die vorspringenden Zimmer senkrechte Mittelachsen der Quadratfelder, die sich durch die maximale Loggialänge ergeben. Die Quadrate überschneiden sich aber je um ein Rasterfeld. Einzelne Loggien können also zwei Symmetrieachsen zugeordnet werden. Diese Mehrfachlesbarkeit macht die Fassade erst spannend. Die anfänglich asymmetrische Fensterteilung störte noch dieses Prinzip. Deshalb die Korrektur. Das Phänomen der Mehrfachlesbarkeit wurde 1968/1974 von Rowe, Slutzky und Hoesli im kleinen Buch "Transparenz" abgehandelt. (11).
Die Fassade wirkt in ihrer Abmessung sehr bestimmt. Das verwundert wiederum nicht, denn die Front des Baukörpers (ohne EG-Laube und Dachgeschoss) hat die Proportion von zwei zusammengefügten goldenen Rechtecken. Die unsichtbare Fuge liegt über dem Eingang. Die Proportion des goldenen Schnitts taucht auch bei den Mittelfeldern der durchgehenden Fenster im 1. Obergeschoss auf. Die anschliessenden Lüftungsflügel bilden über die Pfeilerabdeckung hinweg Quadrate. Also auch hier eine optische Überlagerung analog den Quadraten der Obergeschosse. Die Analyse bestätigt, dass die Fassade mit Sorgfalt gestaltet wurde. Im Nachruf für Roland Rohn schrieb W. Wehrli über seinen Chef: "Mit Mass und Zahl, Licht und Schatten erstrebte er im schöpferischen Schaffen den "Goldenen Schnitt" für seine Werke... (12)
So klar die Handschrift Rohns bei diesem Bau spürbar ist, so deutlich muss hier herausgestrichen werden, dass gerade das Spiel der geschossweisen Versetzung in seinem Werk sonst nirgends auftaucht. Es lohnt sich also, einmal genau zu untersuchen, woher die Motive kommen.

Das Mezzanin

Das spezielle 1. Obergeschoss, das man auch als Mezzanin bezeichnen kann, weil separate Treppen direkt vom Erdgeschoss heraufführen, ist ursprünglich wohl eine italienische Erfindung. In der Schweiz ist das selten. Und doch glaubt man den modernen Prototyp mit Mezzanin in einem Gebäude in Zürich wiederzuerkennen. Es ist das Geschäftshaus „Bleicherhof“ in Zürich, das Otto Rudolf Salvisberg als als letztes Werk 1940 errichtete (Abb. 6). (13) Rohn übernahm im selben Jahr das Büro Salvisbergs. Der „Bleicherhof“ hat Rohn nachhaltig geprägt. Das Geschäftshaus Talgarten (1953) und der Neubau des Bankvereins (1957) in Zürich weisen ähnliche Rasterfassaden in Stein auf. Beim Geschäftshaus in Frankfurt am Main (Planung 1954) erscheint sogar das leicht vorstehende, voll verglaste Mezzanin (Abb.7). Beim Gebäude in Biel verraten das Mezzanin, die Erdgeschosslaube und die Gestaltung der Schaufensterfront die Spur, die von Rohn zu Salvisberg zurückführt.

Versetzte Loggien

Rohns Vorliebe für einen strengen Fassadenraster, wie ihn Salvisberg am „Bleicherhof“ demonstrierte, lässt aber Zweifel aufkommen, ob die spielerische Gestaltung der Bieler Fassade mit versetzten Loggien wirklich von ihm ausging. Dabei stellt sich die Frage: Ist das Motiv der geschossweisen Versetzung damals schon ein vorexerziertes Motiv oder stammt es als originelle Idee aus der Feder eines seiner Partner? Die Suche in der Bilderwelt der Architektur der 1950er Jahre bringt Interessantes zum Vorschein (Abb. 8). Als wichtiges Ereignis nach dem Krieg galt Le Corbusiers Bau der "Unité d'habitation" in Marseille (Einweihung 1952). Der Bau wurde überall publiziert. Unter den Fotos war auch die Ansicht der Schmalfront. Le Corbusier veranstaltete hier ein abwechslungsreiches Spiel mit versetzten Loggien (Abb. 8 o.links.). Zwei Jahre später (1954) errichteten die Franzosen Bodiansky, Candilis, Woods und Piot in Casablanca einen Wohnblock, der in der Fassadengestaltung der Unité d'habitation stark glich (Abb. 8 u. links) Das Spiel der versetzten Loggien ist hier aber regelmässig. Eine willkürliche Anordnung ist ausgeschlossen. Sie scheint strukturbedingt zu sein. Bei einem anderen Wohnblock (1953) in Casablanca zeigt sich die Vorliebe Georges Candilis‘ und Schedrach Woods‘ für regelmässige, geschossweise versetzte Strukturen noch deutlicher (Abb. 8 o.rechts).(14) Auch der Schweizer André Studer baute zu dieser Zeit solche Strukturen in Marokko. In Brasilien war es der Stadtbaumeister von Rio de Janeiro Alfonso Reidy, der eine Schwäche für dieses Motiv hatte.(15) Doch muss man gar nicht so weit suchen: In Frankreich bauten 1954 Claude Ferret und Yves Salier in Bordeaux eine Feuerwehrzentrale mit Wohnungen, dessen Fassade fast genau mit der Fassade unseres Gebäudes in Biel übereinstimmt (Abb. 8 u.rechts). Sogar die Gestaltung der Geländer und der Einbau einer Deckenstrahlheizung scheinen von diesem Bau übernommen zu sein.(16)

Versetzte Fenster

Bei der Fenstergestaltung lässt sich in den 1950er Jahren ein analoges Phänomen feststellen. Für die Fensterwände der Allerheiligenkirche in Basel (1953) entwarf Hermann Baur zwei vorfabrizierte Betonelemente, bei denen die Öffnungen vertauscht sind. Am Bau entsteht dann ein Lichtfilter mit einem ornamental versetzten Muster (Abb. 9 oben). Marcel Breuer wendete den Trick der versetzen Fenster 1957 an einem Warenhaus in Amsterdam an (Abb.9 unten). Damit konnte er die stark geschlossene Wand dekorativ gestalten. Selbst Le Corbusier griff in den 1950er Jahren in diese Trickkiste. Beim Umgang des Klosters "Sainte-Marie-de-la-Tourette" (1957-59) plazierte er, schichtweise versetzt, geschlossene Elemente ins Fenstergerippe (Abb. 10). Durch horizontales Auseinanderziehen vermied er, dass sich die Füllungen an den Ecken berühren. Ein Vergleich mit unserer Fassade in Biel ist angebracht. Die Eckfüllungen ergänzen sich zudem über die Lüftungsschlitze hinweg zu Quadraten wie im Mezzanin in Biel. Le Corbusiers Gestaltung basiert auf der Entwicklung seines "Modulors", der eben zum formalen Spiel verleitet. Die Fensterteilungen der Bieler Fassade sind ein Beispiel für die breite Anwendung dieses Instruments (17).

Ein verfügbares Motiv

Dass die Versetzung ein verfügbares Motiv war, zeigt sich daran, dass Gianpeter Gaudy um 1960 (Baueingabe 1958!) an der Nidaugasse in Biel ein Wohn- und Geschäftshaus errichtete, dessen Balkone geschossweise versetzt sind (Abb. 11) Vielleicht sind Bieler Architekten empfänglicher als Architekten der deutschsprachigen Schweiz für dieses spielerische Motiv, dessen Ursprung in Frankreich zu liegen scheint. Werner Bornoz aus Nidau war jedenfalls Abonnent der Architekturzeitschrift "Architecture d'aujourd'hui" und hatte ein Flair für geometrische Spiele. (18) Es ist gut möglich, dass er Rohn zum Spiel mit versetzen Fassadenelementen beim Wohn- und Geschäftshaus "Jura" anregte. Vergleicht man die Baueingabepläne mit den Plänen seines Hauses von 1951 in Nidau so fällt auf, dass die Anschriften von der selben Hand geschrieben wurden (19). Es war also Bornoz , der die Baueingabepläne zeichnete. Der Plan einer Seitenfassade vom April 1956 (also vor Baueingabe) trägt hingegen die Handschrift Rohns. Er ist mit den Wettbewerbsplänen von 1957 fürs Stadtspital in Zürich vergleichbar.(20) Wer genau das Versetzspiel der Loggien in den Entwurf einbrachte, bleibt unklar. Es ist letztlich auch unbedeutend: Das Motiv war ja verfügbar.

Das fliegende Dachgesims

Als Letztes soll die Herkunft des fliegenden Dachgesimses abgeklärt werden. Es ist Ende der 1950er und anfangs der 1960er Jahre ein häufig verwendetes Motiv bei Verwaltungs- und Geschäftsbauten. Auch hier ist Le Corbusier Wegbereiter: Schon bei der Siedlung in Pessac umrahmt er 1924-26 die Lufträume der Terrassen mit Balkengerüste. Stellenweise tragen die Gerüste ein Schattendach, doch ging es Le Corbusier es vor allem darum, den Aussenraum zu markieren. Bei seinen beiden Häusern in der Werkbundsiedlung Weissenhof in Stuttgart verwendet er 1927 dann auch in analoger Weise fliegende Dachgesimse um die Dachterrassen räumlich ins Volumen einzubinden. Die Gebrüder Luckhardt nehmen dieses Motiv 1928 bei der Villa Kluge in Berlin auf (Abb. 12, o. links) auf. In Italien war es Giuseppe Terragni, der dieses Element in den 1930er Jahren virtuos anwendete. In der Schweiz hatte dieses modernistische Motiv vorerst keine Chancen. Das Sachliche Bauen, das die konservative Antwort auf die avantgardistische Moderne war, bevorzugte nach der Landi 1939 wieder das traditionelle Steildach.(21) Nach dem Krieg wurde oft mit einem flachen Dachvorsprung ein Flachdach vorgetäuscht. Das Geschäftshaus mit Post an der Stampfenbachstrasse in Zürich, von Oskar Becherer 1948-1949 erbaut, war schon fast wieder revolutionär (Abb. 12, o. rechts). Sein scheinbar schwebendes Flachdach löst sich auf der Westseite sogar in eine Pergola auf. Ein Jahr später realisierte Armin Meili an einem Industriebau in Schinznach-Bad ein fliegendes Dachgesims (Abb. 12, u. links). Da Rohn auch viel mit Industriebau beschäftigt war, entging ihm das nicht. Er kopierte dieses Motiv für die Erweiterung des Jelmoli 1961 in Zürich (Abb. 12, u. rechts), nachdem er es in Biel am Neumarktplatz 1960 schon ausprobierte.

Epigonenarchitektur

Benedikt Huber beklagte 1960 die Praxis des Kopierens: „Besonders die sogenannte Spekulationsarchitektur hat sich der modernen Ausdrucksweise bemächtigt, einerseits, um mit dem Wind und der Zeit zu segeln, andererseits, weil man in diesen Kreisen bemerkt hat, dass mit modernen Prinzipien ausserordentlich wirtschaftlich gebaut werden konnte...Sie benützen wie in früheren Zeiten der verschieden Stile die Werke des Meisters als Nachschlagewerk und fügen einzelne Teile zu einem Neuen zusammen...“(22) Weil oft weniger die Konzeption als das Erscheinungsbild zählte, bewegte sich diese Architektur an der Grenze zum Formalismus. Andererseits bedeutete es eine Abkopplung vom Funktionalismus. Es durfte wieder gestaltet werden. Es lief auf ein plastisches Gestalten im Raum hinaus.(23) Dies hatte Folgen für Fassaden. Sie bekamen eine Tiefenwirkung. Le Corbusier demonstrierte dies mit dem Justizpalast in Chandigarh 1956 vor. Die Lust an der Plastizität deckt sich zu dieser Zeit mit der Faszination für islamische Siedlungsstrukturen in Nordafrika. Sogar Le Corbusier war von der arabischen Architektur eingenommen.(24) Durch die Nachahmung solcher gewachsener Strukturen rutschte der scheinbare Zufall in die westliche Architektur. Das Kinderhaus von Aldo van Eyck in Amsterdam (1955-61) war eine direkte Umsetzung. Huber schrieb 1963: „An Stelle des gleichförmigen Raster treten unregelmässige Folgen... an Stelle des Logischen das Undefinierte. Die Architektur will wieder Überraschung sein.“(25) Die funktionelle Logik in der Architektur, auf die sich die Moderne versteifte, wurde fallengelassen. Das Interesse galt nun Strukturen, in denen vieles möglich ist.
Die Fassade des Wohn- und Geschäftshauses „Jura" in Biel ist unmittelbarer Ausdruck dieser Strömungen. Sie gibt sogar mit dem versetzten Einfügen einzelner Zimmerfronten in einen regelmässigen Raster eine Vorahnung des kommenden Strukturalismus der 1960er Jahre, bei dem ganze Städte in Zellenstrukturen gedacht werden.

Exkurs

Diese architekturgeschichtliche Recherche stünde isoliert da, wenn nicht gerade heute die Vorliebe für versetzte Strukturen wieder auftauchte. Vor allem bei jüngeren Architekten sind sie schon fast Mode. Die Arbeiten von Marianne Burkhalter und Christian Sumi dienten möglicherweise als Vorbild. Gerade der Holzbau erleichtert das freie Gestalten der Fassaden. Wird beim Hotel Zürichberg (1995) das Motiv der versetzten Loggien gewählt, damit die Öffnungen den Baukörper nicht zerreissen (Abb. 13), handelt es sich bei den versetzten Fenstern des Kindergartens in Lustenau (1994) doch eher um ein gestalterisches Spiel. Ja sogar die Schrankfront nimmt dieses Thema auf (Abb. 14).
Frappant ist die Ähnlichkeit der Wohnüberbauung Paul Clairmont-Strasse in Zürich von 2006 (Abb. 15) mit dem Wohnblock von Candilis und Woods 1953 in Casablanca (Abb. 8, o. rechts). Es ist kaum vorstellbar, dass die Architekten Gmür und Steib das Werk von Candilis und Woods nicht kannten. Die Fassade der Wohnüberbauung „Quartett +“ in Freiburg i. Ü, entworfen von Fidanza & Lehmann (2007 im Bau) führt heute ebenfalls vor, wie versetzte Loggien die Fassaden beleben können (Abb. 16).
So geht mir zum Schluss folgende Frage durch den Kopf: Was hat unsere Zeit mit den 1950er-Jahren gemein, dass ähnliche Motive wieder auftauchen? Ich erinnere nochmals an den Kommentar von Benedikt Huber aus dem Jahre 1960. Seine damaligen Aussagen scheinen auch für unsere zeitgenössische Architektur gültig zu sein. Kurz zusammengefasst: Das Erscheinungsbild zählt. Durch die Abkopplung vom Funktionalismus kann wieder gestaltet werden. Und es läuft auf ein plastisches Gestalten im Raum hinaus.

Bern 1998 / Fribourg 2007

Hinweis: Dieser Aufsatz erschien erstmals im „Baudoc-Bulletin“ von Januar 1999 (herausgegeben von der Schweizer Baudokumentation, Blauen). Er wurde hier geringfügig ergänzt (Abb. 15, 16 mit Kommentar im Text) und an wenigen Stellen modifiziert. Der Aufsatz ist auch in französischer Sprache bei robert [dot] walker [at] bluewin [dot] ch erhältlich.

1. Die Renovation um 2001/2002 leitete Architekt Thomas Szikszay aus Zürich.
2. Roland Rohn, Tragwerk und Raumabschluss, Promotionsarbeit Nr.609 ETH-Zürich,
Referent: Prof. H. Jenny, Korrefferent: Prof. Salvisberg, Aarau: Sauerländer 1931
3. W. Wehrli, Roland Rohn, Nachruf in: SBZ 1971, S.1168,
s. auch: Architektenlexikon der Schweiz 19./20.Jh., Basel: Birkhäuser Verlag 1998
4. alle Angaben gemäss Auskunft der Tochter Fabienne Giesbrecht-Bornoz
5. Gemäss Angaben von Daniel Wolf, Bauinventar , Denkmalpflege des Kantons Bern
6. Baugeschichtliches Archiv, Zürich
7. gemäss Akten zum Baugesuch auf der Baudirektion Biel
8. wie Anm. 7
9. Neubau Jura Biel, in: Bieler Tagblatt, 28.4.1960
10. Roland Rohn, Otto Rudolf Salvisberg, Nachruf in: Werk 1941, S.305
11. Rowe u. Slutzky, Bernard Hoesli, Transparenz, Basel: Birkhäuser Verlag 1974, S.62,63
12. Siehe Anm. 3.
13. Claude Lichtenstein, O.R.Salvisberg - die andere Moderne, Zürich: gta-Verlag 1985
14. Maurice Besset, Neue franz. Architektur, Teufen: Arthur Niggli Verlag 1967, S. 72
15. siehe Werk 1953, S.241ff
16. wie Anm. 14, S. 190
17. Le Corbusier, Der Modulor, Stuttgart: DVA 1978, Wiedergabe der 2. Aufl. von 1956. Die französische Erstausgabe erschien 1948, die deutsche 1953.
18. nach Angabe seiner Tochter, siehe Anm. 2
19. Einsicht in die Pläne von Frau Fabienne Giesbrecht-Bornoz ermöglicht
20. siehe: SBZ 1957, S.436
21. Christoph Allenspach, Architektur in der Schweiz, hrsg. von der Pro Helvetia 1998
22. Benedikt Huber, Epigonen, in: Werk 1960, S. 419
23. Bendikt Huber, Zwischen Architektur und Plastik, in: Werk 1960, S.71
24. wie Anm.14, S. 27
25. Benedikt Huber, Architektur des Zufalls, in: Werk 1963, S.264

Illustrations

1
Abb. 1: Wohn- und Geschäftshaus „Jura“ am Neumarktplatz in Biel: erbaut 1960 von R. Rohn, F. Rüegsegger u. W. Bornoz. Aufnahme 1998, vor der Renovation.
2
Abb. 2: Wohn- und Geschäftshaus „Jura“ nach der Renovation 2002. (Foto 2007)
3
Abb. 3: Oben: Baueingabeplan 1956, signiert von Dr. R. Rohn, F. Rüegsegger und W. Bornoz. Unten: Ausführungsplan 1960.
4
Abb. 4: Treppenauge, Sicht von unten.
5
Abb. 5: Analyse der Hauptfassade: Überlagernde Quadrate mit den Achsen 1, 2, 3 4 und die Proportionen des Goldenen Schnitts bestimmen die geometrische Ordnung. (Überzeichnung durch R. Walker)
6
Abb. 6: O. R. Salvisberg, Geschäftshaus „Bleicherhof“ Bleicherweg, Zürich, 1940
7
Abb. 7: Stefan Blattner und Roland Rohn, Geschäftshaus in Frankfurt a. M., Modellansicht 1954. Rasterfassade und Mezzanin wie beim „Bleicherhof“.
8
Abb. 8: Oben links: Le Corbusier, Unité d’habitation, Marseille 1952. Rechts: Candilis u. Woods, Wohnblock in Casablanca 1952/53. Unten links: Bodiansky, Candilis, Woods, Wohnblock in Casablanca 1952-54. Rechts: Claude Ferret ,Yves Salier, Feuerwehrzentrale in Bordeaux 1951-52
9
Abb. 9: Oben: H. Baur, Allerheiligenkirche in Basel 1952. Unten: M. Breuer, A. Elzas, Warenaus in Rotterdam 1956/57
10
Abb. 10: Le Corbusier, Kloster Sante-Marie de La Tourette bei Eveux 1957-60
11
Abb. 11: Gianpeter Gaudy, A. Gfeller, Wohn- und Geschäftshaus , Nidaugasse, Biel 1959/60
12
Abb. 12: Fliegende Dachgesimse: Oben links: Gebr. Luckhardt mit Alfons Anker, Villa Kluge, Berlin 1928, rechts: Oskar Becherer, Geschäftshaus, Stampfenbachstrasse, Zürich 1949 Unten links: Armin Meili , Amag 1947-50, rechts: R. Rohn, Jelmoli, Erweiterung 1961
13
Abb. 13: Burkhalter & Sumi, Hotel Zürichberg 1993-95, Zürich
14
Abb. 14: Burkhalter & Sumi, Kindergarten in Lustenau, 1992-94.
15
Abb. 15: Gmür & Steib, Wohnüberbauung Plaul Clairmont-Strasse, 2006 Zürich. (Vgl. Wohnblock von Candilis/Woods in Casablanca 1954 Abb. 8, oben rechts.)
16
Abb. 16: Fidanza & Lehmann, “Überbauung Quartett +“ in Fribourg (2007 im Bau)