Mario Bottas Interesse am Barock

Mario Bottas Interesse am Barock
Bottas Engagement beim Bau eines Querschnittmodells der Kirche S. Carlo alle Quatro Fontane als Aushängeschild für die Borromini-Ausstellung 1999 in Lugano weckt die Frage, ob es in seinem Werk Verwandtschaften zu Borrominis Architektur gibt. Und tatsächlich: Nach der Vorliebe für Primärkörper versuchte Botta ihre Verschmelzungen und schuf damit Verformungen, die dem Barock sehr nahe sind.

1999 bekam Lugano ein besonderes Geschenk. Auf dem See schwimmend wurde ein hölzernes Querschnittmodell einer kleinen barocken Kirche aufgebaut (Abb. 1). Das Modell im Massstab 1:1 zeigt den halben Innenraum der Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane, die der Tessiner Architekt Francesco Borromini 1638-1641 in Rom erbaute. Dem Frühwerk dieses Architekten war auch die Ausstellung gewidmet, für die das Modell als Aushängeschild fungierte. Der Ausstellungsgestalter und Initiator des Modells hiess Mario Botta. Da der Aufwand das Übliche überstieg - das Modell konnte nur dank Arbeitsloseneinsatz errichtet werden -, sei hier die Frage erlaubt: Warum engagierte sich Botta so stark für Borromini? Klar, es gibt Gemeinsamkeiten: Wie Borromini ist Botta ein Tessiner Baumeister, der bald mehr im Ausland baut. Doch nicht dieser Umstand, sondern vielmehr ein spezifisches Interesse an Borrominis Werk motivierte wohl Botta zum aussergewöhnlichen Beitrag. In der Tat lässt sich im Schaffen Mario Bottas in den letzten 10 Jahren eine Entwicklung feststellen, die gewisse Parallelen zur Barockarchitektur Borrominis aufweist.

Kombination von Primärformen

Anfang der 1980er-Jahre baute Botta viele Einfamilienhäuser in Primärformen. Sie erschienen als prägnante Würfel, Quader oder Zylinder (z. B. das runde Haus in Stabio von 1992). Sie sollten Ordnungspunkte in der zersiedelten Landschaft werden. Doch eigentlich waren es Formexperimente hinsichtlich grösserer Bauaufgaben. Neben Banken entdeckte auch die Kirche die ausdrucksstarke Architektur Bottas. In Pordenone, im Veneto, konnte er seine erste Kirche bauen (Abb. 2). Ein Kegelstumpf bildet den Hauptraum. In der schräg abgeschnittenen Spitze fügte Botta das Oberlicht ein. Der Kegel ruht auf einem Kranz von Rundpfeilern, die in einem quadratischen Raum stehen. In den Randzonen ist der Kontrast zwischen Quadrat und Kreis spürbar. Auch der Vorhof ist quadratisch und erinnert mit dem Umgang an die Atrien frühchristlicher Kirchen. Das Vorbild für die Kegelform ist hingegen in den utopischen Entwürfen von Etienne-Louis Boullée (1728-99) zu finden. Bekannt ist das monumentale, kugelförmige Kenotaph für Isaac Newton, doch Boullée entwarf auch ein kegelförmiges Kenotaph (Abb. 3). Im Unterschied zu Boullée stellt Botta aber den Kegel auf eine quadratische Grundstruktur. (Das Motiv des Baumkranzes übernahm er bei seiner Kathedrale in Evry unweit von Paris.) Botta versucht mit zwei Primärformen eine Einheit zu schaffen. Das ist seine Leidenschaft. Bei der Kirche in Sartirana (1987-95) wird die Kombination zweier Primärformen räumlich noch verstärkt. Über den zylindrischen Kirchenraum wird en Würfel gestülpt. Der Sakralraum ist unten rund, über der Empore aber quadratisch (Abb. 4). Die Oberlichtbänder entlang den Aussenwänden lassen das Licht auf die Empore hinter der kreisförmigen Brüstung fallen (Abb. 5). Die Empore wird zur Lichtkammer, die indirekt die Kirche erhellt - ein geradezu barockes Thema.

Verformungen

Ab 1986 engagierte sich Botta für eine neue Kirche in Mogno. Eine Lawine riss die alte Kirche fort. Über ihren rechteckigen Grundriss zeichnete Botta eine Ellipse. „Eine starke Grundform gegen die Gewalt der Lawine“, rechtfertigte Botta den Entwurf. Dies kann nur symbolisch gemeint sein, denn als Lawinenschutzkegel liegt die Ellipse falsch - die Längsachse steht nämlich quer zur Falllinie des Hanges. Solche Argumente vertuschen aber die wahre Inspirationsquelle. Die elliptische Grundform bedeutet nämlich einen Rückgriff auf barocke Kirchengrundrisse. So basiert auch die Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane auf einem Oval. Der Baukörper der Kirche in Mogno ist ein gestauchter Zylinder, der schräg abgeschnitten ist (Abb. 6). Hier taucht das Thema der Kathedrale von Evry auf. Normalerweise wird die schräge Schnittfläche eines Zylinders zur Ellipse, doch Botta stellt in Mogno das Prinzip auf den Kopf: Da er das schräge Glasdach in Form eines Kreises wünscht, muss er den Zylinder zusammenstauchen; sein Grundriss wird zur Ellipse. Die Kirche von Mogno verblüfft aber noch durch einen anderen Trick, dem bisher wenig Beachtung geschenkt wurde: Der Innenraum ist unten rechteckig, oben hingegen rund. Der Übergang geschieht allmählich, die Kante verschwindet unmerklich (Abb. 6). Wie zaubert Botta das hin? Ganz einfach: Die Steinschichten oberhalb der Altarnischen krümmen sich immer mehr zurück, bis sie unter dem Glasdach die Ellipsenform erreichen (Abb. 8). Durch den Farbwechsel der Steinschichten werden die schmalen Rücksprünge kaum wahrgenommen. Der Hohlraum zwischen der inneren Steinschicht und der Aussenwand wurde mit Beton gefüllt (Abb. 7). Der Bau ist trotzdem zweischalig. Die Innenschale unterscheidet sich von der Aussenform. Sie wird zur Lichtöffnung hin verformt - was bei barocken Kirchen häufig vor kommt.

Quadratur des Kreises

Bei der Synagoge in Tel Aviv greift Botta 1996-98 das Thema der sukzessiven Verformung von Mogno wieder auf (Abb. 9). Es gelingt ihm quasi die Quadratur des Kreises. Schon die Aufgabe war zweiköpfig. Neben einer Synagoge für praktizierende Juden sollte auch ein jüdisches Zentrum für Laien entstehen. Botta schlug zwei identische Baukörper vor. Zwei Würfel gehen dabei in je einen Zylinder über - Schicht um Schicht. Was Botta in Mogno im Innenraum ausprobierte, demonstriert er in Tel Aviv innen wie aussen. Die beiden rechteckigen Räume verwandeln sich nach oben hin zu Zylinderhohlräumen. Darin hängt jeweils eine quadratische Kassettendecke. Durch die Segmentöffnungen am Rand fällt das Licht auf die Wand und thematisiert mit der runden Schattenkante das paradoxe Zusammenspiel der Formen. An den Fassaden werfen die vorkragenden Steinschichten Schatten. Das starke Sonnenlicht modelliert so die Verformung der Baukörper. Sie erscheinen monumental und massiv, bekommen aber durch die Verformung eine innere Spannung - wie im Barock.

Lehrmeister Borromini

Auch Borromini liebte geometrische Konflikte zwischen einer Grundrissform und ihrer Überdachung. In S. Ivo in Rom kann dem Grundriss der Kirche ein Sechseckstern eingeschrieben werden. Jede Sternspitze berührt dabei die Rückwand einer Nische. Die Nischen setzen sich im Kuppelbereich fort, doch zum Scheitel hin verflacht die Innenseite zu einer normalen Kuppelschale. Während Borromini innen die dreidimensionale Verformung mit Verputz glättet, führt er aussen eine stereometrische Lösung des Problems vor (Abb. 10). Sechs Treppen mit fortlaufend verändertem Stufenradius führen zwischen den Rippen zum Kuppelring hoch. So gelingt es Borromini, vom gewellten Kranzgesims zum runden Kuppelabschluss überzuleiten. Denkt man die dekorativen Rippen weg, erkennt man das gleiche Prinzip wie bei Bottas Synagoge in Tel Aviv. Nur ist es dort auf den Kopf gestellt.

Barock in Schichten

Botta wandte das Prinzip der sich verändernden Schichten rückwirkend auf Borrominis Architektur an. Das Querschnittmodell auf dem Luganersee ist in horizontalen Brettschichten aufgebaut (Abb. 11). Schicht für Schicht wurde der Verlauf der inneren Raumgrenze mit dem Computer nachgezeichnet. So konnten die komplizierten barocken Formen auf ein Liniennetz reduziert werden. Die Linien wurden dann zu den gefrästen Konturen der Holzplatten (Abb. 12). Ihre Stapelung regenerierte die räumliche Gestalt. Zwischenräume sparten Holz und führen zu einer gewissen Abstraktion.
Auf Ähnliche Art und Weise gestaltete Mario Botta im Mai 1999 mit Kartonplatten ein Schaufenster in Bern (Abb. 13). Mit drei ineinander greifenden Reihen schräg geschnittener Platten schuf Botta eine höhlenartige Wand, die den Hintergrund zur Ausstellung der Minotaurus-Zeichnungen von Dürrenmatt bildete. Botta entdeckte damit neu das Prinzip der Hüllkurve: Eine Folge von geraden Schnittlinien umschliesst ein dreidimensionales Gebilde.

Wie wir gesehen haben, begnügt sich Mario Botta nicht mehr mit einfachen stereometrischen Körpern, wie er sie anfänglich bei seinem Lehrmeister Louis Kahn, dann bei Etienne-Louis Boullée oder in der romanischen Architektur beispielhaft vorfand. Wie Borromini sucht er nach neuen, spannungsvolleren Formen. Wie im Barock sind Verformungen ein Hilfsmittel dazu. Botta probiert sie im Kleinen aus und überträgt sie dann auf grössere Projekte. Irgendwo taucht dann bei der Lösung eines Detailproblems eine neue Formvariante auf. So entwickelt sich sein Werk von Projekt zu Projekt.

Bern 2001 / Fribourg 2009

Hinweis: Der Aufsatz erschien erstmals im Baudoc-Bulletin 5/6 von Mai/Juni 2001, herausgegeben von der Schweizer Baudokumentation, Blauen. Er wurde hier durch zwei zusätzliche Bilder ergänzt (Abb. 4 und 11).

Illustrations

1
Abb. 1: Mario Botta, Querschnittmodell von Borrominis Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane (1638-41), erstellt 1999 auf dem See in Lugano.
2
Abb. 2: Mario Botta, Kirche in Pordenone (1987-92).
3
Abb. 3: Etienne-Louis Boullee (1728-99), Kenotaph.
4
Abb. 4: Mario Botta, Kirche in Sartirana (1987-95): Grundriss.
5
Abb. 5: Mario Botta, Kirche in Sartirana (1987-95): Innenraum.
6
Abb. 6: Mario Botta, Kirche in Mogno (1986/92-98).
7
Abb. 7: Studio Botta: Querschnitt der Kirche in Mogno.
8
Abb. 8: Studio Botta, Kirche Mogno, Grundriss unter Oberlicht.
9
Abb. 9: Mario Botta, Cymbalista Synagoge und jüdisches Zentrum,Tel Aviv (1996-98).
10
Abb. 10: Francesco Borromini, S. Ivo, Rom (1642-50).
11
Abb. 11 Accademia d‘architettura, Mendnsio, Perspektive Modell von S. Carlo alle Quattro Fontane.
12
Abb. 12: Accademia d‘architettura, Mendnsio, Schichtplan mit Bolzen für das Modell von S. Carlo alle Quattro Fontane.
13
Abb. 13: M. Botta; Schaufenstergestaltung für das Warenhaus Loeb, Bern 1999.