Ein Vorläufer der Moderne von Eduard Lanz. Das Haus Schibli in Lengnau(BE), erbaut 1927

Haus Schibli in Lengnau(BE)
baute 1927 für den Lehrer und Dichter Emil Schibli ein kleines, turmartiges Haus. Dieses revolutionäre Haus zählt zur Avantgarde der modernen Architektur in der Schweiz.

Lengnau, ein unscheinbares Strassendorf am Jurasüdfuss südlich von Grenchen, weist einige Perlen der modernen Architektur auf. Der Bieler Architekt Max Schlup baute hier in den 1950er Jahren neuartige Fabrikbauten. Noch erstaunlicher ist aber, dass in Lengnau eines der ersten modernen Häuser der Zwanzigerjahre steht. Es wurde 1927 von Eduard Lanz, einem anderen Bieler Architekten, für den Lehrer und Dichter Emil Schibli erbaut. Damals galt dieses kleine Haus als ein revolutionärer Bote der in Deutschland aufkommenden modernen Architektur.

Das Haus Schibli erscheint wie ein Wachturm am Dorfrand (Abb.1). So aussergewöhnlich das Haus, so aussergewöhnlich ist der Bauherr: Emil Schibli durchlebte eine harte Jugendzeit. Nur wenige Monate nach seiner Geburt 1891 in einem Zürcher Arbeiterquartier zerbrach die Ehe seiner Eltern. Es begann eine 17-jährige Odyssee, zumal die zweite Ehe seiner Mutter ebenso unglücklich verlief. Emil kam als Verdingbub zu Bauern. Danach lebte er kurze Zeit bei seinem Vater. Nachdem er die Aufnahmeprüfung ans Lehrerseminar in Küsnacht nicht bestanden hatte, verhalf ihm ein Lehrer zu einem Ausbildungsplatz in einer Buchhandlung in Zürich. Zur Literatur fühlte sich Schibli hingezogen, seit er mit einem Aufsatz einen Wettbewerb gewonnen hatte. Nach der Lehre arbeitete er zuerst in der Buchhandlung Francke in Bern, wo er wichtige Kontakte knüpfen konnte. So lernte Schibli auch Hermann Hesse persönlich kennen, dem er seine Gedichte unterbreitete. Obwohl die Poesie Schiblis Leidenschaft war, drängte es ihn nach einem «richtigen» Beruf. Im Seminar Bern konnte er schliesslich eine verkürzte Lehrerausbildung absolvieren. 1918, nach Erlangung des Lehrerpatents, wurde er an die Primarschule in Lengnau gewählt. Schibli hatte nun eine sichere Existenzgrundlage, doch blieb neben dem Schulbetrieb das Dichten und Schreiben seine Passion. Nach der Heirat und der Geburt der Tochter Verena verstärkte sich der Wunsch nach einem eigenen Haus.

Der Architekt Eduard Lanz

Im kulturellen Umfeld von Biel lernte Schibli den Architekten Eduard Lanz kennen. Lanz studierte 1905-1910 am Polytechnikum in Zürich (der heutigen ETH). Die letzten Kriegsjahre verbrachte er meist in Berlin, wo er bei den Professoren Möring und Bestelmeyer arbeitete und weiterstudierte. Als unmittelbarer Zeuge der Novemberrevolution von 1918 liess sich Lanz für sozialistische Ideen begeistern. Zeitweise betätigte er sich auch auf dem städtischen Wohnungsamt in Berlin. Im Städtebau gewann die Gartenstadtbewegung damals an Bedeutung und der Kleinwohnungsbau wurde zum Thema. 1919 kehrte Lanz in die Schweiz zurück und erhielt vorerst bei der Kreisdirektion der SBB in Basel eine Stelle. Für die Bahnbauten am Jurasüdfuss zuständig, konnte er das Lokomotivdepot in Biel erstellen. In Basel hatte er sicher auch den Bau des von Hannes Meyer entworfenen Freidorfes in Muttenz (1919-1921) - eine der bedeutendsten Genossenschaftssiedlungen der Schweiz - und den Bau der Wohnkolonie Lindengarten (1920-1923) von Hans Bernoulli miterlebt. Genossenschafts-Siedlungen wurden denn auch zur wichtigsten Bauaufgabe von Lanz, nachdem er 1924 in Biel sein eigenes Büro eröffnet hatte. So entstanden ab 1925 die Siedlungen am Rennweg (1925/26), an der Sonnhalde (1926-1930) und im Möösliacker (1927-1931) sowie in der Hofmatten in Nidau (3. Etappe 1929), bevor Lanz 1930-1932 sein Hauptwerk, nämlich das Volkshaus in Biel, bauen konnte. Bei diesem markanten Objekt kam dann auch eine andere Facette des Architekten zum Vorschein. Plastische Freiheit und expressiver Ausdruck in einer Klinkerarchitektur widerspiegeln deutschen Grossstadtcharakter.

Ein befreiender Entwurf

Schibli beschrieb 1935 in seinem Buch «Wir wollen leben», wie es zum Bau seines Hauses kam: «Im Städtchen am See wohnt der Architekt. [...] Der Mann interessierte mich, weil ich in ihm einen geradezu besessenen Plänemacher und Baumeister entdeckte. Er wollte bauen, nichts als bauen. Und zwar so gut wie möglich und gleichzeitig so billig wie möglich.» Wohl auch aufgrund der gemeinsamen sozialdemokratischen Grundgesinnung schenkte Emil Schibli Eduard Lanz sein Vertrauen: «Der Architekt wusste, dass er, was den Stil meines Hauses betraf, etwas riskieren durfte, [...] Die einzige Schwierigkeit bestand darin, mit der festgesetzten Bausumme auszukommen. Sie sollte über zwanzigtausend nicht hinausgehen.» Lanz machte sich wohl 1927 an den Entwurf. Auf der Skizze, die er Schibli vorlegte, sah das Haus wie ein Wachtürmchen aus, weil es an Stelle eines Satteldaches ein Pultdach trug (Abb.1). Es sei die billigste Konstruktion, die man sich ausdenken kann, soll Lanz gesagt haben. Ziel war es, jeden Kubikzentimeter auszunutzen. Die Küche wurde auf wenige Quadratmeter eingeschränkt. Lanz entwarf eigens eine Art Einbauküche (Abb.5). Im Schrank zur Wohnstube gab es eine Durchreiche (Abb.4). Der Wohnstube durfte jedoch nichts Kleinliches anhaften. Der Raum erstreckt sich folglich über die ganze Hausbreite und belegt zwei Drittel der Grundfläche (Abb.3). Zwei Zimmer teilen sich dieselbe Fläche im Obergeschoss. Im Kellersockel befindet sich neben der Waschküche ein befensterter Raum, der in den Wintermonaten als Schreibstube diente. Als das Haus fertig war, besuchten viele Leute Schibli und schüttelten fassungslos den Kopf. Zur Rechtfertigung der kleinen Küche erwiderte dieser: «Diese Küche ist nichts anderes als ein Werkraum für eine Person: Für die Hausfrau. Hier wird Essen zubereitet, nichts weiter. Hast du schon [...} in den Arbeitsraum eines Lokomotivführers hineingesehen? Nun, der ist auch nicht grösser, als diese Küche.»

Trotz knappen Mitteln fügte Lanz dem Haus Bauteile hinzu, die geradezu luxuriös erscheinen, zum Beispiel den Erker (Abb.1). Er öffnet den Blick zur Landschaft und wurde im Sommer zur Schreibecke. Als plastisches Element verstärkt er zudem den Turmcharakter. Er macht aus dem Gebäude ein Wohnhaus, assoziiert man mit dem Pultdach doch eher einen Schopf oder ein Atelier, im besten Fall ein Ferienhaus. Der kleine trapezförmige Balkon auf der Westseite kann zwar als Putzbalkon benutzt werden, doch scheint er in seiner Zuspitzung wohl eher eine Anspielung auf eine Rednerkanzel zu sein; bei diesem Detail geht es wohl weniger um Nutzung als um formale Gestaltung (Abb. 7). Für den Verputz wählten Lanz und Schibli eine ockerrote Farbe, was vielleicht auch als Zeichen ihrer sozialistischen Gesinnung gedacht war. Der Name «La casa rossa» liess denn auch nicht lange auf sich warten. Auch im Innern wählte Lanz kräftige Farben: Die Tapete des Elternschlafzimmers war tannengrün, das Holzwerk preussischblau. Das Kinderzimmer hingegen hatte eine hellblaue Tapete. Farbliche Gestaltungen dieser Art waren Ende der Zwanzigerjahre beliebt - der Einfluss des Expressionismus ist darin klar erkennbar.

Avantgarde

Aus heutiger Sicht erscheint das Haus unspektakulär. Unser Auge hat sich an moderne Architektur gewöhnt. Doch damals gab es fast nichts Gleichartiges, im Berner Mittelland schon gar nicht. Durchkämmt man die Schweizer Architektur vor 1927, so stösst man nur in Basel auf ein paar Häuser mit Pultdächern. Eines davon ist das Haus Sandreuter in Riehen, 1924 vom Architektenpaar Rudolf und Flora Steiger-Crawford errichtet (Abb.9). Nebst einem kleinen Objekt von Le Corbusier in Corseaux bei Vevey (1925 für seine Mutter erstellt) zählt dieses Wohnhaus zu den ersten Versuchen in einer neuen modernen Formensprache. Besonders die gemauerte Westseite mit den Eckfenstern und der fehlende Dachvorsprung deuten auf einen Stilwandel hin. Die Nord- und Ostseiten, aus Holz und unter einer Dachschleppe, weisen eine gewisse Verwandtschaft mit Häusern in Riehen von Paul Artaria und Hans Schmidt auf. 1924 bauten diese beiden Architekten das Haus im Schlipf mit versetzten Pultdächern, Zwei Jahre später konnten sie in Riehen ein hölzernes Atelierhaus erstellen, bei dem sich die beiden Trakte durch gegenläufige Pultdächer voneinander absetzen. Im Juni 1927 wurde in der Schweizerischen Bauzeitung das Bauhaus Dessau mit den Meisterhäusern vorgestellt. Dies war quasi der Startschuss zur Modernen Architektur in der Schweiz. Im Juli wurde in Stuttgart zudem die Weissenhofsiedlung als erste Werkschau moderner Architektur eröffnet und im selben Jahr kommentierte die Bauzeitung eine Ausstellung von Ferien- und Wochenendhäuschen in Berlin, während sie 1928 Ferienhäuser mit Pultdächern von Hans Leuzinger publizierte. Das Thema des kleinen Hauses scheint mit der Entwicklung der modernen Architektur einher zu gehen. Schon 1906 wurde in Berlin ein Kleinhaus-Wettbewerb ausgeschrieben. Vorerst handelte es sich um einen gefragten Bautyp für die Gartenstadtbewegung, die sich ja nicht nur auf Villen beschränken konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Wohnungsnot aber derart gross, dass billige Kleinhäuser von Baugenossenschaften in Form von Reihenhäusern massenhaft erstellt wurden. Neue Materialien (z.B. sparsame Baustoffe) und funktionale kleine Räume ohne jegliche Repräsentation wurden zu Leitthemen für die Architekten.

Für Lanz war das Kleinhaus mehr als nur eine Spielerei. Zusammen mit dem Bieler Baudirektor Vögtli, dem Stadtgeometer Villars und anderen organisierte er 1927 in der Turnhalle an der Logengasse in Biel die Ausstellung «Die Stadtanlage in Vergangenheit und Zukunft - Stadtentwicklung und Kleinwohnung», in welcher zahlreiche Schweizer Wohnkolonien der 1920er Jahre vorgestellt wurden.

Schiblis «Frankfurter Küche»

Margarete Schütte-Lihotzky begann ab 1922 in Wien mit neuen Platz sparenden Kücheneinrichtungen zu experimentieren. 1926 wurde sie durch Ernst May an das Hochbauamt der Stadt Frankfurt berufen, wo sie standardisierte Einbauküchen für den städtischen Wohnungsbau entwickelte. Selbst in Radiosendungen, einem damals neuen Kommunikationsmittel, versuchte sie die Frauen vom Nutzen ihres neuen Küchentyps zu überzeugen. 1927 stellte Schütte-Lihotzky in der Ausstellung «Die neue Wohnung und ihr Innenausbau» ihr Küchenkonzept vor. Von 1926 bis 1930 wurden alle Frankfurter Gemeindewohnungen mit ihrer Einbauküche ausgestattet - die sogenannte «Frankfurter Küche» wurde zum Begriff, das Konzept fand schnell Verbreitung. Lanz musste schon 1927 davon erfahren haben. Die minimalistische, aber funktionale Küche bei Schibli ist ohne das Vorbild der «Frankfurter Küche» undenkbar, sieht sie doch den deutschen Ausführungen sehr ähnlich (Abb. 5 u. 6).

Die Deutsche Moderne vor 1930

Welches sind die formalen Elemente, die am Haus Schibli den Einfluss der deutschen Architektur spüren lassen? Zu dieser Zeit erhielten in Deutschland neu erstellte Wohnhäuser meist knappe Dachvorsprünge, die vielfach mit Kranzgesimsen verdeckt wurden. Gleiches geschieht beim Haus Schibli auf der Südseite. Auf den anderen drei Seiten fehlt der Vorsprung ganz. Die Nordseite täuscht sogar ein Flachdach vor, da weder Dachrinne noch Dachneigung erkennbar sind (Abb. 8). Diese Fassade erinnert mit den kleinen quadratischen, versetzt angeordneten Fenstern an die Rückseite der legendären Villa Müller, die 1928-1930 durch den Wiener Architekten Adolf Loos in Prag erstellt wurde. Das Haus Schibli stand zwar damals bereits, doch ist die kubische Architektur bei Loos schon seit 1912 vorgezeichnet (z.B. Haus Scheu in Wien, 1912-13) und mehrfach publiziert. Die scheinbar freie Anordnung unterschiedlicher Fenster ist ein weiteres Kennzeichen am Haus Schibli. Obwohl sie funktional bestimmt ist, komponierte Lanz die Anordnung. So platzierte er das kleine Estrichfenster in der Spitze der Ostfassade (Abb. 2), um eine gewisse Dramatik zu erzeugen und um das Gleichgewicht der Nordfassade nicht zu stören. An der Nordseite wäre das Estrichfenster nämlich praktischer gewesen, da es dazu diente, Brennholz hochzuziehen. Und der Erker akzentuiert als plastisches Element den turmartigen Baukörper. Diese auf den ersten Blick simple, in Tat und Wahrheit aber spannend durchkomponierte Architektur erinnert an Werke des Berliner Architekten Bruno Taut - nicht zuletzt der ursprünglich farbigen Fassade wegen (vgl. dazu die Siedlung «Onkel Toms Hütte» in Berlin, J 1926-1932).

Einzigartig

Das Haus Schibli wurde als Zeichen einer neuen Zeit wahrgenommen, drückte aber auch den eigenwilligen Charakter des Bauherrn aus. Der Kunstmaler Max Kessler liess sich von diesem Neubau unmittelbar beeinflussen, liess er sich doch um 1930 in Feldbrunnen bei Solothurn ebenfalls ein Haus mit einem steilen Pultdach erstellen (Abb. 10). Nach 1933 nahm Paul Artaria das Thema Pultdach wieder auf, zum Beispiel bei einem Wochenendhaus in Beinwil oder einem Wohnhaus in Reinach. Der Holzfassaden und der leicht vorkragenden Dächer wegen fehlt diesen Häusern aber der ausgeprägte Turmcharakter. Da zudem die Betonung der Horizontalen unter dem Einfluss Le Corbusiers in den 1930er Jahren vorherrschte, bleibt der Lengnauer Schibli-Turm ein einzigartiges Beispiel expressiver Architektur nach deutschem Vorbild.

Hinweis:

Der Artikel erschien erstmals im Mitteilungsblatt 2004 des Berner Heimatschutzes.
(www.heimatschutz-bern.ch / info [at] heimatschutz-bern [dot] ch)

Anmerkungen

Abbildungen

1
Abb.1: Haus Schibli, um 1930
2
Abb.2: Haus Schibli, Ansicht von Osten, Zustand 2004
3
Abb.3: Grundriss EG
4
Abb.4: Tür und Durchreiche zur Küche
5
Abb.5: Fortschrittliche Einbauküche
6
Abb.6: „Frankfurter Küche“
7
Abb.7: Putzbalkon als Anspielung auf Rednertribune
8
Abb.8: Spannungsvolle Nordfassade
9
Abb.9. Haus Sandreuter in Riehen 1924, Architekten: Rudolf und Flora Steiger-Crawford
10
Abb.10 Haus Kessler in Feldbrunnen bei Solothurn, um 1930

Abbildungsnachweis

  • Abb.1: Archives de la Construction Moderne EPFL, Nachlass Lanz.
  • Abb.2: R. Walker.
  • Abb.3: R. Walker.
  • Abb.4: R. Walker.
  • Abb.5: R. Walker.
  • Abb.6: Foto aus: Arbeit von Dedy Fenitania an der Berner Fachhochschule, 2000, publiziert auf dem Web: www.hta-be.bfh.ch/~axxklass/fenitania/kueche/frankfurterK.html
  • Abb.7: R. Walker.
  • Abb.8: R. Walker.
  • Abb.9.: Foto aus: Dorothee Huber, Architekturführer Basel, Basel 1993.
  • Abb.10: Foto aus: Kanton Solothurn, Neues Bauen 1920–1940, Zürich 1991)